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Neuromodulation: Schmerz neu verstehen

Aktualisiert: 8. Apr.


Neuromodulation bei Schmerz

Schmerz – ein Schutzmechanismus des Gehirns

Schmerz ist kein direkter Maßstab für Gewebeschäden. Vielmehr ist es das Ergebnis einer Bewertung durch das Gehirn: Ist die Situation sicher und vorhersehbar? Diese Einschätzung basiert auf Erfahrungen, dem aktuellen Kontext und den Informationen, die über unsere Sinneswahrnehmung aus dem Körper und der Umgebung eintreffen.

Ein alltägliches Beispiel verdeutlicht das gut: Wenn man sich den Ellenbogen stößt, reibt man instinktiv über die betroffene Stelle. Oder früher: Mama hat das "Aua" einfach weggeblasen – und irgendwie hat es funktioniert. Was wie Zauberei erscheint, hat eine physiologische Grundlage. Durch die taktile Stimulation – sei es Reibung oder Druck werden sensorische Reize an das Rückenmark und weiter an das Gehirn gesendet.

Diese Reize schaffen eine neue Ausgangslage, die vom Gehirn neu interpretiert wird. Das unangenehme Signal wird überlagert und somit weniger stark oder gar nicht mehr wahrgenommen. Dieses Prinzip ist eine Form der sogenannten Neuromodulation – und spielt auch in der Schmerztherapie eine zentrale Rolle.


Reizschwelle, Toleranz und Lautstärkeregler

Das Nervensystem verfügt über innere "Lautstärkeregler". Reize werden nicht immer gleich stark empfunden – es hängt von der sogenannten Reizschwelle ab. Ist sie erhöht, nimmt man weniger wahr; ist sie gesenkt, genügen schon leichte Reize, um als schmerzhaft empfunden zu werden.

Z.B. können Stress, Angst, Schlafmangel oder frühere negative Erfahrungen die Reizschwelle senken. Der Körper reagiert dann empfindlicher – man spricht von einer verringerten Toleranz gegenüber Reizen. Die gute Nachricht: Diese "Lautstärkeregler" lassen sich trainieren. Durch gezielte Sinnesreize und angepasste Bewegungen kann das Gehirn lernen, Reize neu zu bewerten und die Reizschwelle wieder anzuheben.


Das Prinzip der Neuromodulation

Neuromodulation in der Therapie bedeutet, das Nervensystem gezielt zu beeinflussen, um das Schmerzempfinden zu verändern. Dabei geht es nicht darum, verletztes Gewebe direkt zu behandeln, sondern die Informationsverarbeitung im Nervensystem zu beeinflussen. Schon einfache Reize – wie Druck, Wärme oder gezielte Bewegung – können die Wahrnehmung positiv beeinflussen.


Sensorik vor Motorik

Bewegung beginnt mit Wahrnehmung. Erst wenn das Gehirn ausreichende Informationen über Gelenkstellung, Muskelspannung, visuelle Eindrücke und Gleichgewicht bekommt, kann es Bewegungen gezielt und sicher steuern. Die Sensoren dafür sitzen überall im Körper: in Haut, Muskeln, Gelenken, im Innenohr (Gleichgewichtssinn) und in den Augen.

Viele Therapieansätze konzentrieren sich auf sogenannte Propriozeptoren – Sensoren, die Körperlage und Bewegung registrieren. Doch sie allein reichen häufig nicht aus.

Das Gleichgewichtssystem (vestibulär) und das visuelle System haben neuronal gesehen einen größeren Einfluss und sind tief in die Bewegungs- und Schmerzverarbeitung eingebunden. Um gezielt an der Ursache arbeiten zu können, muss getestet werden, welches dieser Systeme trainiert werden muss, damit das Gehirn eine bessere Ausgangssituation für die Bewegungssteuerung hat.

Passive manuelle Behandlungen – wie z. B. Massage, Faszientherapie oder passive Gelenkmobilisationen – können dabei eine wertvolle Rolle spielen, denn sie liefern dem Nervensystem sensorische Informationen, die eine kurzfristige Schmerzlinderung ermöglichen. Allerdings bleibt der Effekt meist auf diese kurzfristige Modulation beschränkt, wenn nicht unmittelbar danach eine neue, aktive und positive Bewegungserfahrung folgt. Erst durch die Kombination aus Reiz und anschließender Bewegung kann das Nervensystem das Erlebte als sicher speichern und für zukünftige Situationen nutzen.


Das Gehirn erkennt Muster

Unser Gehirn ist Meister der Mustererkennung. Wiederkehrende Abläufe werden als Erfahrungen gespeichert und daraufhin Vorhersagen getroffen. Wenn eine Bewegung in der Vergangenheit mit Schmerz verbunden war, bewertet das Gehirn dieselbe Bewegung in der Zukunft vorsichtiger – auch wenn der eigentliche Auslöser längst verschwunden ist.

Diese gespeicherten Muster beeinflussen unsere Bewegungen, unser Verhalten und die Toleranzen unser Schmerzempfinden. Durch neue, gezielt gesetzte Reize kann man diese Muster überschreiben. Wiederholte, sichere Bewegungen in Kombination mit sensorischer Stimulation helfen dem Gehirn neue Informationen zu liefern: „Diese Bewegung ist jetzt okay.“


Praktische Anwendung:

  • Bewegungsausmaß testen: Teste ab welchem Winkel die Bewegung schmerzhaft wird.

  • Sensorischer Reiz: z. B. durch taktile Reize (Druck, Vibration), visuelles Training (z. B. periphere Wahrnehmung) oder vestibuläre Reize (z.B. Kopfbewegung).

  • Bewegung erneut testen: Im Anschluss folgt die Bewegung, die vorher schmerzhaft war – nun im veränderten, „sicheren“ Zustand.

  • Wiederholen und bestätigen: Durch Wiederholung speichert das Nervensystem das neue Muster als „nicht gefährlich“ ab.


Warum dieser Weg sinnvoll ist

  • Er richtet sich an die Steuerzentrale: das Nervensystem.

  • Er verändert nicht nur Symptome, sondern die Interpretation von Reizen.

  • Er nutzt die Plastizität des Gehirns – also seine Fähigkeit, sich durch neue Erfahrungen umzulernen.

  • Er lässt sich individuell anpassen und ist vielseitig kombinierbar.


Fazit

Schmerz ist ein Schutzmechanismus, aber kein starres Signal. Er kann sich verändern – je nachdem, wie das Nervensystem Informationen bewertet. Wer versteht, wie Sinne, Erfahrungen und Bewegung zusammenspielen, kann gezielter und nachhaltiger Einfluss nehmen. Die Kombination aus sensorischer Stimulation, gezielter Bewegung und Wiederholung bietet einen effektiven, körpernahen und neurologisch fundierten Weg zu mehr Freiheit und weniger Schmerz.


Mach's nicht irgendwie. Mach's smart!


Daniel Sturm

Train smart. Reach goals.

Physiotherapeut / Heilpraktiker / Neuroathletik-Trainer


 
 
 

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